3 Fragen an... Prof. Dr. Andreas Groß: Mythos Kleben – Die missverstandene Rolle der Klebtechnik im Zuge aktueller Entwicklungen rund um Ökologie und Nachhaltigkeit

© Fraunhofer IFAM

Ein Missverständnis ist eine kommunikative Störung, die aus dem Differenzwert zwischen dem Gemeinten eines Senders und dem Verstandenen beim Empfänger besteht. Es tritt oft aufgrund von fehlendem Wissen auf. Dem wollen wir mit diesem Blogartikel entgegenwirken, in dem es um die missverstandene Rolle der Klebtechnik in Diskussionen rund um Kreislaufwirtschaft geht.

Klebtechnik und Kreislaufwirtschaft – diese Kombination steht unter keinem guten Stern. Oft wird angenommen, dass für die Kreislaufwirtschaft die Klebtechnik ein Hemmschuh ist. Der eher faktenbasierten positiven Bewertung auf Expertenebene steht die eher emotionsbasierte negative Einschätzung in der Öffentlichkeit gegenüber. Erschwerend kommt hinzu, dass in der öffentlichen Betrachtung Kreislaufwirtschaft häufig mit Recycling gleichgesetzt und die Klebtechnikbewertung auf Recyclingfähigkeit reduziert wird. Kleben scheint in diesem Zusammenhang ein effektives Recyceln offensichtlich zu verhindern. Recycling wird von der allgemeinen Bevölkerung jedoch alsdie Öko-Strategie gesehen. Und wenn die Klebtechnik als Gegenspielerin dieser Strategie aufgefasst wird, inwiefern kann sie dann überhaupt als Beitrag zur Einhaltung des European Green Deals gesehen werden? Diesen Fragen werden wir in diesem Gespräch mit Prof. Dr. Groß, Leiter des Bereichs Weiterbildung und Technologietransfer des Fraunhofer IFAM, auf den Grund gehen.

 

Green DealDas übergeordnete Ziel des European Green Deals ist die Klimaneutralität Europas bis zum Jahr 2050, das nur durch eine klimaneutrale und ressourcenschonende Wirtschaft erreicht werden kann. Der Übergang von einer Linearwirtschaft in eine Kreislaufwirtschaft nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Die Klebtechnik besitzt das Potenzial, diese neuen Anforderungen mit technischen Innovationen voranzutreiben, da sie in vielen Bereichen Optimierung der Ökobilanzwirksamkeit bewirken kann.[1]

 

R-Strategien: Ziel der Kreislaufwirtschaft ist es, den Verbrauch natürlicher Ressourcen zu reduzieren und die Kreislaufführung von Materialien zu verbessern, wodurch gleichzeitig weniger Abfall entsteht (siehe Abbildung). Zentrales Element der Implementierung der Kreislaufwirtschaft ist die EU-Abfallrahmenrichtlinie, deren Kernkonzept in den sogenannten R-Strategien besteht. Die R-Strategien im Überblick siehe Grafik.

 

 

Herr Prof. Dr. Groß, welche Rolle spielt die Klebtechnik für die Themen Nachhaltigkeit und Ökologie?

In Diskussionen um die Relevanz der Klebtechnik in der Kreislaufwirtschaft wird ihre Rolle oft missverstanden. Das liegt daran, dass der Fokus meist auf dem letzten Strategieelement R9 - Recycling (siehe Abb.) liegt und die übergeordneten Strategieelemente R2 – R8 eher keine Berücksichtigung finden. Zunächst möchte ich unmissverständlich klarstellen, dass die Klebtechnik auch dem Recycling, also R9, nicht widerspricht! Alle Verbindungen, auch die geklebten, lassen sich wieder lösen, auch für Recyclingzwecke. Tetra Pak-Weichverpackungen – bestehend aus Papier (ca. 75%), Kunststoff (ca. 20%, Polyethylen, PE) und Aluminium (ca. 5%) – zeigen beispielhaft, wie bei einem geklebten Produkt, trotz der Annahme, es sei nicht recycelbar, durch industrielle Prozesse die Trennung der Schichten doch möglich ist und auch in einem hohen Maße durchgeführt wird.

Wie gesagt, vor allem die Annahme, das Kleben und Recycling sich ausschließen und die sich daraus scheinbar ergebende Schlussfolgerung, Kleben könnte wenig zur Erreichung des European Green Deals beitragen, wird dem Kleben und seinem technologischen wie ökologischen Leistungspotenzial in keiner Weise gerecht. Tatsache ist vielmehr, dass das Kleben zu den R-Strategien R2 – R8 (siehe Abb.) ökologisch mehrwertschaffend zur Kreislaufwirtschaft beiträgt.

Das Missverständnis besteht also darin, dass die Optionen der Reduzierung der Werkstoffeinsatzmengen im jeweiligen Produkt und der Verlängerung der Lebensdauer von Produkten nicht als zentraler Teil der Kreislaufwirtschaft in Erwägung gezogen werden?

Genauso ist es! Meiner Erfahrung nach – und wie auch die im letzten Jahr veröffentlichte Dokumentation der ARD »Die Recyclinglüge« gezeigt hat – kann Recycling beim besten Willen nicht als die einzige Lösung gesehen werden. Selbst bei innovativstem Design und optimierter Herstellung und Verwendung werden Produkte und Produktteile nach einem möglichst langen Lebenszyklus zu Abfall. Der Grund ist einfach nachzuvollziehen: Der Aufwand für die Strategieelemente R4 – R8 (siehe Abbildung) wird wirtschaftlich und ökologisch zu groß. Letzteres auf Grund zusätzlichen Verbrauchs an Materialien und Energie.

Der Einsatz der Klebtechnologie hat dagegen zur Folge, dass im Sinn von R2 – rethink die Langlebigkeit von Produkten sich verbessert. Was heißt das für eine Kreislaufwirtschaft? Ein Materialnutzungszyklus für die Kreislaufwirtschaft verlängert sich und demzufolge minimiert sich, über mehrere Zyklen betrachtet, der Abfallanteil bzw. der Materialanteil, der nur auf einer niedrigen Wertschöpfungsstufe wiederverwendet werden kann. Anwendungsbereiche, in denen die Klebtechnik die längere Nutzung eines Produkts unterstützen sind beispielsweise Automobil-, Flugzeug- und Schienenfahrzeugbau. Optimierte Oberflächenbehandlungsverfahren verbessern die Langzeitbeständigkeit der Klebstoffhaftung, die sogenannte Adhäsion, und damit die Produktlanglebigkeit. Und beim Metallkleben verlängert der Klebstoff zwischen den metallischen Fügeteilen die Produktlebensdauer, indem er produktlebenslang Kontaktkorrosion vermeidet. Leichtbauweisen, d.h. die langfristige Erreichung gleicher Funktionalität mit weniger Material entspricht R 3 - reduce. Leichtbau ist eine der wirksamsten, ressourceneffizientesten Ökodesign-Strategien und die Klebtechnik ist hierfür Schlüsseltechnologie und »Enabler« zugleich. Darüber hinaus dürfte das Kleben die bereits am häufigsten verwendete Reparaturmethode (R5 – repair) sein. Eine Reparatur verlängert die Produktnutzung und führt dadurch zu einem längeren Verbleib der Rohstoffe im Kreislauf. Ressourcenschonung durch Kleben! Aus ökologischer Sicht sollte die Gebrauchsdauer eines Produktes möglichst lang sein, selbst wenn neuere Produktgenerationen beispielsweise eine höhere Energieeffizienz aufweisen, da für die Neuproduktion oftmals ein bedeutenderer Energie- und Materialeinsatz notwendig ist.

Wir leben nach wie vor in einer Wegwerfgesellschaft, in der zunehmend darüber nachgedacht wird, wie ein benutztes oder kaputtes Produkt recycelt werden kann. Die Verlängerung der Lebensdauer von Produkten wird dabei als Lösung zu häufig außer Acht gelassen. Beispielsweise besonders für die Abfallwirtschaft des problematischen Elektromülls kann Recycling nicht die alleinige Lösung des Problems sein, wie wir an den Mülldeponien im Globalen Süden sehen – nur 17% des Elektromülls wird wirklich recycelt. Zudem wissen wir mittlerweile, dass nach heutigem Stand der Erkenntnisse die Rohstoffe für die Produktion von Smartphones sich zum Ende dieses Jahrhunderts sich ihrem Ende zuneigen.

Durch Kleben können wir hingegen die Lebensdauer eines Smartphones verlängern. Hier kommen wir dann zu einem spezifischen Punkt des »Ökodesigns« – die Möglichkeit der Lebensdauerverlängerung auch durch Instandhaltung und Reparatur muss auch bei geklebten Produkten im Designprozess schon mitgedacht werden; unabhängig von den wirtschaftlichen Interessen der Hersteller. Dementsprechend muss es auch hier ein besseres, d.h. auf diese Fragestellung ausgerichtetes Verständnis für die Klebtechnik auf Seiten der Klebstoff- und Produkthersteller, Dienstleister, Verbraucher und Entsorger geben, um die zentrale Rolle der Klebtechnik in der und für die Kreislaufwirtschaft zu verdeutlichen.

Und noch etwas, was gerne vergessen wird: Kleben ist zudem integraler Bestandteil der Energiewende! Kleben ermöglicht moderne Anlagen zur alternativen und zuverlässigen (!) Energieerzeugung im großen Maßstab. Die Rotorblätter der Windenergieanlagen sind ausschließlich klebtechnisch gefügt. Klebtechnik kommt in der Photovoltaik zum Einsatz. Elektromobilität ohne Kleben ist nicht denkbar. Stichworte sind hier: Montage der Magnetkerne, Abdichten der Batteriezellen, Wärmemanagement der Batterien. Brennstoffzellen müssen hermetisch abgedichtet und die verwendeten Bipolarplatten klebtechnisch verbunden werden.

Sie erwähnten den Dokumentarfilm »Die Recyclinglüge« aus dem Jahr 2022. Die Frage, die sich durch diese Enthüllungen rund um Recycling umso mehr stellt, ist: Ist Recycling wirklich die Lösung für Klimaneutralität?

Noch einmal, Recycling ist zweifelsohne ein Teil der Lösung. Recycling ist aber zweifelsohne nicht die Lösung. Im Jahr 2021 wurden lediglich knapp 10% der weltweiten Kunststoffproduktion wirklich recycelt im Sinne der Gewinnung sogenannter Sekundärrohstoffe.

Also, es geht um eine Bewusstseinsänderung, oder besser gesagt »Bewusstseinserweiterung«. Wir müssen ganzheitlich denken und die gesamten R-Strategien sehen. Wir dürfen nicht einen einzelnen Aspekt, wie z.B. R9 – recycle, aus dem Gesamtkontext herauslösen und diesen zur alleinigen Entscheidungsgrundlage machen. Vereinfacht gesagt: 9 R statt nur R9!

 

[1]Quelle: Fraunhofer IFAM, https://www.klebstoffe.com/wp-content/uploads/2022/01/IVK_Wie-Klebstoffe-die-Ziele-des-Green-Deals-unterstuetzen.pdf

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