Die mögliche Veränderung einer risikobasierten Bewertung von Chemikalien hin zu einer Bewertung, die die Gefahren fokussiert, erscheint doch auf den ersten Blick erstmal nicht verkehrt. Worin besteht das Problem?
Groß: Auf den »ersten Blick« gebe ich Ihnen recht. Der genauere Blick offenbart das Problem. Ich befürchte, dass in der Öffentlichkeit und damit der politischer Entscheiderebene die sich daraus dann ergebenden Konsequenzen eines derartigen Paradigmenwechsels nicht wirklich klar sind.
Welches Kommunikationsproblem erwarten Sie?
Groß: Der auf Gefahrenbetrachtung beruhende Regulierungsansatz ist zugegebenermaßen publikumswirksam, um nicht zu sagen populistisch: Er folgt der in der Öffentlichkeit vorherrschenden skeptischen Betrachtung bzw. dem Vorurteil, dass »Chemie« grundsätzlich gefährlich ist. Das führt zu der verbreiteten Einschätzung, dass – vereinfacht gesagt - »Chemikalien« grundsätzlich »Gefahrstoffe« sind.
Gefahrstoffe sind aber nun einmal Gefahrstoffe, gefährliche Stoffe sind nun einmal gefährliche Stoffe. Ich kann hier kein Kommunikationsproblem erkennen…
Groß: Dem werde ich nicht widersprechen und Sie werden von mir kein verharmlosendes Wort dazu zu hören bekommen! Der zentrale Aspekt für mich ist, wie wir mit Gefahrstoffen und mit Stoffen, auch chemischen Stoffen, allgemein umgehen. Und dieser Umgang definiert für mich auch die Kommunikation. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Wasser ist als heißer Wasserdampf gefährlich und ein Kleinkind kann im 1m tiefen Swimmingpool ertrinken. Trotzdem ist Wasser kein »Gefahrstoff«. Entscheidend sind immer die Zu- und Umstände und die Exposition, also das beabsichtigte oder unbeabsichtigte Ausgesetztsein gegenüber externen Einflüssen, ist ebenfalls zu berücksichtigen.
Kein Widerspruch - aber worin sehen Sie denn nun die Herausforderung für die Klebtechnik?
Groß: Ich möchte hier Paracelsus, eine prägende Medizinerpersönlichkeit zwischen Mittelalter und Neuzeit und der Wegbereiter der pharmazeutischen Chemie, zitieren: »Alle Ding sind Gift, und nichts ist ohn Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.« Diese 500jährige Erkenntnis gilt bis heute uneingeschränkt und wird auch in den nächsten 500 Jahren nichts an ihrer uneingeschränkten Gültigkeit einbüßen.
Ok, aber das erklärt nicht die befürchtete Herausforderung durch einen gefahrenbasierten Ansatz…
Groß: Eben doch! Wenn, was unbestreitbar richtig ist, »alle Ding Gift sind«, kann ich einem »Gift«, d.h. einem Stoff, auch einem gefährlichen, nicht ausweichen. Das heißt, es geht zunächst nicht um den Stoff, sondern darum, wie man damit umgeht. Ich will das an einem allgemein verständlichen Beispiel verdeutlichen: Sie gehen in den Zoo und schauen sich Tiger an. Vom Tiger geht Gefahr aus, er ist also das »Gift«, d.h. der »Gefahrstoff«. Dass alle Besucherinnen und Besucher unbehelligt bleiben, hat damit zu tun, dass sich alle Beteiligten, Zoobetreiber wie Zoobesucherinnen und -besucher sich des »Gifts«, also des »Gefahrstoffs«, bewusst sind. Im Sinne der Risikobetrachtung sind Schutzmaßnahmen getroffen und umgesetzt worden: Der Tiger, das »Gift«, der »Gefahrstoff« befindet sich in einem Käfig. Soll heißen, Sie und ich und alle anderen kommen nicht mit dem »Gift«, dem »Gefahrstoff« (= Tiger) unter vorhersehbaren Zu- und Umständen und vorschriftsgemäßem Verhalten in Kontakt.
Schauen wir uns den Tiger an in seiner Heimat, dem Dschungel, ändert sich am »Gift« bzw. am »Gefahrstoff« Tiger nichts. Was sich ändert, ist die Wahrscheinlichkeit, mit Tiger in Kontakt zu kommen. Denn im Dschungel fehlen die aus einer Risikobetrachtung resultierenden Schutznahmen für eine Risikominimierung.
Soweit klar – entscheidend ist, keinen Kontakt zu haben, der zu einem nicht akzeptablen Risiko führt. Wo liegt jetzt die Herausforderung bei der gefahrenbasierten Betrachtung?
Groß: Ganz einfach! Ich bleibe bei diesem Beispiel: Der Tiger, d.h. das »Gift« bzw. der »Gefahrstoff« wird bei einer gefahrenbasierten Betrachtung einfach verboten. Punkt! Wohlgemerkt, auch im Zoo! Und das trotz dort nachweislich wirksamer, risikominimierender Schutzmaßnahmen, vorhersehbaren Zu- und Umständen und vorschriftsgemäßem Verhalten. Uns bliebe unbenommen, weiterhin in den Zoo zu gehen. Nur könnten wir dann keine Tiger mehr anschauen – weil der als »Gefahrstoff« dort verboten ist.
Das heißt, der Tigerkäfig wird frei für z.B. Meerschweinchen…
Groß: Schönes Beispiel – das »Gift« bzw. der »Gefahrstoff Tiger« wird einfach durch ein »Nicht-Gift« bzw. einen »Nicht-Gefahrstoff«, beispielsweise in Form eines Meerschweinchen ersetzt.
Die Übertragung dieses Modells auf Gefahrstoffe hört sich problematisch an …
Groß: …richtig, durch den Paradigmenwechsel des Ersatzes der bewährten und erfolgreichen risikobasierten Bewertung durch die gefahrenbasierte Bewertung wird der »Gefahrstoff« verboten – ohne Wenn und Aber und ohne Abschätzung der Folgen unter anderen Gesichtspunkten.
Zumindest wäre aber das Thema »Restrisiko« final doch gelöst, oder?
Groß: Jein, nehmen Sie z.B. den Stoff Formaldehyd, der u.a. im Holz vorkommt. Dies ist ein Gefahrstoff. Ihn zu verbieten, beseitigt aber nicht das Restrisiko, denn wir können bei einem Waldspaziergang dort natürlich vorkommende Formaldehydkonzentrationen messen und sind folglich dieser Exposition ausgesetzt.
Darüber hinaus müssen wir einfach akzeptieren, dass wir unabhängig von »Gefahrstoffen«, in allen Bereichen unseres Lebens mit Restrisiken leben müssen. Sie können Ihr Haus, Ihre Wohnung einbruchssicher ausrüsten. Das Restrisiko, dass trotzdem eingebrochen wird, können Sie nicht ausschließen. Auch beim Fliegen in den Urlaub bleibt, trotz der höchsten Sicherheitsstandards im Flugbereich, ein Restrisiko. Wenn Sie als Fußgänger eine Straße überqueren, und sei es noch so vorsichtig, es bleibt ein Restrisiko. Auch beim Zoobesuch zum Tiger-Anschauen bleibt ein Restrisiko: Sie vertrauen darauf, dass der Käfig sicher verschlossen ist und Sie mit »Gefahrstoff Tiger« nicht in Kontakt kommen.
Das Beispiel macht vieles deutlich. Was bedeutet das für die Klebtechnik?
Groß: Ganz einfach! Ersetzen wir den »Gefahrstoff Tiger« jetzt beispielsweise durch einen »reaktiven Klebstoff«, z.B. auf Epoxidharzbasis. Der reaktive Klebstoff wird bei dem vorherrschenden risikobasierten Regulierungsansatz für Gefahrstoffe heute unter Einhaltung der erforderlichen kontakt- und gefährdungsvermeidenden Sicherheitsauflagen technologisch, ökonomisch und ökologisch erfolgreich mit minimalem Restrisiko eingesetzt. Bei einem gefahrenbasierten Regulierungsansatz würde der Klebstoff dagegen einfach verboten!
Gibt es Alternativen?
Groß: Klar, denn uns bliebe – analog zum Meerschweinchen-Besuch im zukünftigen Zoo –unbenommen, die Klebtechnik weiterhin einzusetzen. Nur dürften wir jetzt für Klebungen nur noch Kindergarten-Klebstoffe einsetzen. Bei 75m-langen Rotorblättern in Windenergieanlagen oder bei hochsicherheitsrelevanten Frontscheiben im PKW oder im ICE ist das aber keine Alternative.
Also müssen wir beim risikobasierten Regulierungsansatz bleiben, wenn wir die technische Entwicklung nicht behindern wollen…
Groß: Ich halte dies für zwingend erforderlich. Die Politik hat so die Chance, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auf dieser Basis die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen wieder in den Fokus stellt. Das ist eine zentrale Voraussetzung für Innovation in unserem Land. Denn Klebstoffe werden nicht eingesetzt, weil es »chic« oder »hip« oder »modern« ist. Der Einsatz der Klebtechnik folgt technologischen, ökologischen und ökonomischen Produktanforderungen, die am besten oder auch nur durch den Einsatz der Klebtechnik erfüllt werden.
Was würde passieren, wenn wir die Klebtechnik gefahrenbasiert bewerten und zukünftig so einsetzen?
Groß: Unsere technischen Möglichkeiten würden absehbar eingeschränkt. Denn geklebt wird heute von A – Z, vom Auto bis zur Zahnkrone, von Mikro bis Makro, unter Wasser, auf dem Wasser, auf dem Land und hoch am Himmel bis in den Weltraum. Es gibt heute kaum noch einen Bereich, in dem die Klebtechnik nicht eingesetzt wird bzw. eingesetzt werden muss. Dabei unterstützt das Kleben auch andere Ziele, die heute im Sinne einer nachhaltigen Produktgestaltung im Fokus stehen. Ein Beispiel ist das Einkleben der PKW-Frontscheiben ist ein Beispiel. Die Scheibe wird durch die Verbindungstechnologie Kleben zum Konstruktionselement. Der geklebte Verbund trägt durch die so erzeugte erhöhte Fahrzeugsteifigkeit zur Gewichtsreduzierung bei. Soll heißen, der PKW wäre, wenn die Scheiben wie früher mit Gummidichtungen mechanisch eingesetzt würden, deutlich schwerer.
Das Verbindungstechnologie Kleben in der PKW-Rohkarosserie – ein nächstes Beispiel – trägt zur Insassensicherheit bei. Im Fall eines Frontalcrashs wird die Energie des Aufpralls durch die Wirkmechanismen der Klebtechnik im Motorraum aufgefangen und dadurch nicht in den Insassenbereich weitergeleitet.
Kleben ist ein Möglichmacher für die angestrebte Energiewende. Die Rotorblätter der Windenergieanlagen sind rein geklebte Konstruktionen. Jede andere Verbindungstechnik würde die Energieausbeute derartig minimieren, so dass Windenergie kein Thema mehr wäre. Überhaupt, die Entwicklung alternativer Energiequellen ist ohne Klebtechnik nach heutigem Stand der Technik undenkbar.
Und auch bei der Digitalisierung würden uns schnell Grenzen gesetzt. Die IT-Hardware funktioniert in ihrer Leistungsfähigkeit nur, weil Klebstoffe als Verbindungstechnologie und zunehmend zum Wärmemanagement eingesetzt werden. Das gilt auch für Smartphones & Co. Es sind die Klebstoffe, die auch hier Erfüllung der steigenden Anforderungen überhaupt erst ermöglichen.
Danke für diese Beispiele, die Gefahr des technologischen Rückschritts wäre also groß und zukünftige Entwicklungen in diesen und anderen Bereichen deutlich schwieriger?
Groß: Ja, aber mir ist noch ein anderer Punkt an dieser Stelle wichtig: Polemik und oberflächliche Betrachtungen sind bei diesem Thema völlig fehl am Platz. Aber, die »giftfreie Umwelt« für Europa ist Utopie. Denn, wie eingangs zitiert, gilt auch heute noch: »Alle Ding sind Gift und kein Ding ist ohn Gift.« Restrisiken auszuschließen ist folglich unmöglich. Aber sie zu minimieren, ist unsere Verantwortung und damit zentrale Herausforderung. Daraus folgt für mich in und für Europa bei der Schaffung von Rahmenbedingungen die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen bei Abwägung der Risiken wieder in den Vordergrund zu stellen. Und das ermöglicht, beispielsweise in der Klebtechnik, die bewährte risikobasierte Bewertung. Diese minimiert die unvermeidbaren Restrisiken und berücksichtigt auf Basis der bestehenden Verordnungen die Gesundheits- und Umweltauswirkungen bis heute weltweit beispielgebend. Und sie lässt gleichzeitig den Raum für erforderliche Innovationen.
Die gefahrenbasierte Betrachtung dagegen schafft nur Verbote und »erstickt« dringend notwendige technologische Weiterentwicklungen. Und sie führt auch nicht zur »Giftfreiheit« Ein »giftfreies Europa« ist utopisch. Ein »giftfreies Australien«, ein »giftfreies Afrika« usw. im Übrigen auch…. Gleiches gilt auch für Restrisiken.
Ein Argument für einen gefahrenbasierten Bewertungsansatz, wäre die Möglichkeit, Bürokratie und Regulierungen abzubauen – wie sehen Sie das?
Groß: Ein gutes Beispiel für oberflächliche Betrachtungen. Das grundsätzliche Ziel steht nicht infrage – wir müssen schnell und spürbar zu Bürokratismus- und Regulierungsabbau und dadurch zu nachweislichen Verbesserungen und Vereinfachungen für Behörden und Unternehmen kommen. Dies gilt auch für die Chemikalienstrategie. Bürokratie und Regulierungen müssen wieder in handhabbare Bahnen gelenkt werden.
Die Frage ist nur wie – die gefahrenbasierte Bewertung mag vielen auf den ersten Blick als geeignetes Instrument erscheinen. Frei nach dem Motto: Verbieten ist vom Aufwand her doch einfacher als Risiken abzuschätzen, und es ist vor allem unbürokratischer! Um in meinem Zoo-Bild zu bleiben: Alle Tiere durch Kuscheltiere zu ersetzen, bedeutet auch, dass unsere industrielle Zukunft in Europa anders aussieht. Das wäre Disruption in Reinkultur.
Daher führt an der Beibehaltung des bewährten risikobasierten Ansatzes kein Weg vorbei. Die Ausrichtung auf die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen bei der Schaffung von Rahmenbedingungen gehört in diesem Zusammenhang wieder unverrückbar in den Mittelpunkt, auch in der Chemikalienstrategie, auch für die Klebtechnik. Dahin wieder zurückzukehren, darin besteht eine zentrale Aufgabe der Politik, und das beinhaltet eine pragmatische und schnelle Umsetzung.
Vielen Dank für das Gespräch!