In der Öffentlichkeit und Politik wird die Klebtechnik eher als Gegenspieler ökologischer Entwicklungen gesehen. Begründet wird das mit den Aussagen, Kleben stehe einer Kreislaufwirtschaft grundsätzlich entgegen, geklebte Produkte könne man nicht reparieren, Klebungen seien nicht recyclingfähig und deshalb nicht zukunftsfähig.
Groß: Dreimal falsch!
Das müssen Sie bitte begründen!
Groß: Dazu müssen wir zunächst das übergeordnete Ziel einer Kreislaufwirtschaft betrachten. Dieses besteht darin, zur Optimierung der Öko-Effizienz Wertstoffe so lange wie möglich im Wirtschaftskreislauf zu halten. Auf diesem Weg wird das notwendige Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt.
Genau, und deshalb ist Recycling doch der richtige Weg. Die in Produkten verwendeten Werkstoffe werden wieder aufbereitet und stehen für neue Produkte zur Verfügung. Wirtschaftswachstum wird so vom Ressourcenverbrauch entkoppelt.
Groß: Und genau so geht es nicht! Diese fahrlässig vereinfachende Betrachtung führt in eine falsche Richtung. Eine Fokussierung auf ein Einzelthema, hier auf das »Recycling«, reduziert die Komplexität des eigentlichen Ziels einer Kreislaufwirtschaft in sträflich unzulässiger Weise. Ich spreche mich nicht gegen Recycling aus. Aber die Reduzierung auf diesen Einzelaspekt ist jedoch falsch und für eine »Kreislaufwirtschaft« sogar kontraproduktiv.
Wie meinen Sie das?
Groß: Stellvertretend am Beispiel der Windenergie würde ich diese falsche Fokussierung auf das »Recycling«, diese falsche Gleichsetzung von »Kreislaufwirtschaft« mit Recycling“ gerne erläutern: Die Rotorblätter der Windenergieanlagen sind aus dem klassischen Leichtbauwerkstoff der glasfaserverstärkten Kunststoffe - GFK gebaut. Es sind rein geklebte Konstruktionen. Schweißen als Verbindungstechnik scheidet aus. Der Werkstoff GFK ist nicht schweißfähig. Punktuelle Verbindungen der GFK-Rotorblatthalbschalen wie Verschraubungen, Nieten oder Nageln scheiden ebenfalls aus. Diese würden an den Verbindungspunkten nicht nur den GFK-Leichtbauwerkstoff durch »Löcher« zerstören, sie würden an den Verbindungsstellen bei den extremen mechanischen Belastungen im Betrieb aufgrund zu hoher Spannungen zum Versagen des GFK-Werkstoffs führen. Folglich müssten diese Spannungen ausgeglichen und dafür das GFK der Leichtbau-Rotorblattwände stark verdickt werden. Damit würden sie aber viel zu schwer. Strom aus Windenergie wäre somit kein Thema mehr. Wenn also heute in Anbetracht der werkstofflichen GFK-Recyclingunfähigkeit in Verbindung mit den angeblich recyclingverhindernden klebtechnischen Verbindungen der Einsatz von GFK und das Kleben der Rotorblätter verboten würde, wäre morgen die Windenergie als regenerative Energie-Erzeugerin gestorben!
Das würde auch für andere alternative Quellen der Energie-Erzeugung gelten. Die Kleb- und Dichttechnik wird in der Photovoltaik notwendigerweise eingesetzt, z.B. bei Solarmodulen für Solardächer. Auch in der Elektromobilität müssen Kleb- und Dichtstoffe notwendigerweise eingesetzt werden, z.B. für die Montage der Magnetkerne, zum Abdichten der Batteriezellen und zum Wärmemanagement der Batterien. Brennstoffzellen müssen hermetisch abgedichtet und die Bipolarplatten langzeitbeständig und sicher verbunden werden, beides mit Klebstoffen. Somit ist bei der Entwicklung alternativer Energiequellen das angeblich kreislaufwirtschaftswidrige Kleben »Enabler« für die angestrebte Energiewende. Diese ist ohne Klebtechnik nach heutigem Stand der Technik undenkbar.
Was gehört denn Ihrer Meinung nach außer dem Recycling noch zu einer Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft?
Groß: Technologien, und damit auch die Verbindungstechnik »Kleben«, müssen für eine kreislaufwirtschaftsrelevante »Ökobilanzwirksamkeit«grundsätzlich ganzheitlich bewertet und eingeordnet werden. Hierzu liefert die EU-Abfallrahmenrichtlinie einen zentralen Baustein. Dort steht an oberster Stelle eben nicht das Recycling. An oberster Stelle steht die Vermeidung von Abfall. Erst dann folgt die Verwertung von Abfall, d.h. die Vorbereitung zur Wiederverwertung, dann das Recycling und dann die sonstige, z.B. organische Wiederverwertung. Zum Schluss kommt die Beseitigung von Abfall. Für diese – ich betone es ausdrücklich – sehr durchdachte Rahmenrichtlinie besteht das ganzheitliche Kernkonzept in den sog. R-Strategien.
„R-Strategien“ sind nicht wirklich bekannt. Was verbirgt sich dahinter?
Groß: Die R-Strategien gliedern sich auf in neun R-Strategieeinzelelemente: R1-Refuse, R2-Rethink, R3-Reduce, R4-Reuse, R5-Repair, R6-Refurbish, R7-Remanufacture, R8-Repurpose und R9-Recycle auf. D.h., die Transformation in Richtung Kreislaufwirtschaft besteht nicht nur aus dem Einzelelement »R9 - Recycling«, sondern umfasst definitiv weit mehr. Zudem steht »R9-Recycling« kommissionsseitig vorgegeben erst an letzter Stelle. Die EU-Kommission hat die anderen R-Strategieeinzelelemente R1 – R 8 dem Recycling bewusst übergeordnet.
Dann schauen wir uns im Kontext Kleben die R-Strategieelemente am besten einmal an. Wie verbinden Sie die einzelnen R-StrategieeElemente mit der Klebtechnik? Fangen wir mit R1 – Refuse an.
Groß: R1- Refuse, also ein Produkt verweigern, ist ein umfassendes, übergeordnetes R-Strategieelement. Es ist technologieunspezifisch.
Einverstanden. Was ist aus Sicht der Klebtechnik mit R2 – rethink, also umdenken?
Groß: Rethink beschreibt die intensivere Nutzung des Produkts z.B. durch dessen längere Haltbarkeit. Durch die nachweisliche Langzeitbeständigkeit von Klebungen verlängert sich z.B. für die im Folgenden genannten, hochgradig und notwendigerweise geklebten Produkte die Lebenszyklusphase »Nutzung«. So steigt die durchschnittliche Lebensdauer eines Autos stetig. Die Gesamtfahrleistung eines ICE bei einer projektierten Lebensdauer von 40 Jahren und einer Jahresfahrleistung von 500.000km beträgt 20 Mio. km. Flugzeuge fliegen bis zu 30 Jahren und werden dafür regelmäßig überwacht und instandgesetzt. Windenergieanlagen sind auf 25 Jahre ausgelegt. Die Verbesserung der Produktlanglebigkeit zum Erhalt der Rohstoffe innerhalb des Kreislaufsystems, wozu die Klebtechnik signifikant beiträgt, gehört im Sinne des Strategieelement R1 – Rethink mit zu den wirksamsten ressourceneffizienten Ökodesignstrategien.
Passen Kleben und R3 – Reduce kreislaufwirtschaftsmäßig zusammen?
Groß: Definitiv! Nehmen wir den Leichtbau, d.h. gleiche Funktionalität mit weniger Material als Beispiel. Diese Bauweise zählt zu den wirksamsten Ökodesignstrategien zur Ressourcenschonung, Energieeinsparung in der Produktnutzung und Abfallvermeidung. Die Klebtechnik ist eine der wichtigsten Fügetechnologien zur Umsetzung des konstruktiven und werkstofflichen Leichtbaus. Ihr Einzigartigkeit, alle Werkstoffe mit sich und anderen langzeitbeständig und sicher zu verbinden und dabei gleichzeitig Werkstoffeigenschaften – hier die Leichtbaueigenschaften – im Produkt zu erhalten, stellt demzufolge für R3 - Reduce einen Schlüssel für die Kreislaufwirtschaft dar. Im Weiteren gehört zu R3 – Reduce die Miniaturisierung. In der Elektronikfertigung steigen die Funktionalitäten ständig und erfordern immer kleinere Dimensionen. Hier sind Spezial-Klebstoffe zwingend erforderlich. Die kleinen Dimensionen können andere Verbindungstechniken nicht leisten. Die dafür entwickelten Klebstoffe dagegen verbinden in Miniaturbauteilen werkstofferhaltend schnell, sicher, langzeitbeständig und hochpräzise auf kleinstem Raum völlig verschiedene Werkstoffe. Sie fixieren Spulen und dichten Gehäuse ab. Sie schützen im Hochzuverlässigkeitsbereich als Chip-Vergussmassen feine Chipstrukturen und Drähte vor mechanischen Belastungen wie Vibrationen, vor thermischen Belastungen durch Temperaturschwankungen, vor Umwelteinflüssen wie Feuchtigkeit und sogar vor Korrosion. Dies kann mit anderen Fügetechniken nur mit deutlich höherem Aufwand oder gar nicht realisiert werden.
Wie sieht es klebtechnisch mit R4-reuse, R5 – repair, R6 – refurbish, R7 – remanufacture und R8 – repurpose kreiskaufwirtschaftsmäßig aus?
Groß: Bei diesen R-Strategieelementen lege ich den Schwerpunkt auf R5 – repair. Eine Reparatur verlängert die Produktnutzung. Rohstoffe werden länger im Kreislauf gehalten. Kleben ist das am häufigsten eingesetzte Reparaturverfahren, auch bei nicht geklebten Produkten. So werden bereits seit Jahrzehnten in Verkehrsmitteln eingeklebte, defekte Scheiben entfernt. Neue Scheiben werden nach vorgegebenen, erprobten Verfahren eingeklebt. Der Scheibenaus- und -einbau ist bereits in der Konstruktion berücksichtigt. Das ist Stand der Technik. Dieses Beispiel ist grundsätzlich auf nahezu alle anderen klebtechnischen Anwendungsbereiche wie Schiffbau, Optik, (Zahn-)Medizin, Medizintechnik, Haushaltsgeräte, Mobiltelefone (Displayscheiben), Akustikindustrie, Schuh- und Sportartikelindustrie und viele mehr übertragbar.
Kommen wir nun doch noch zum Thema Kreislaufwirtschaft, Klebtechnik und Recycling.
Groß: Auch bei ökologisch innovativstem Produktdesign und maximal optimierter Produktherstellung und -nutzung werden Produkte nach einer möglichst langen Produktlebenszyklusphase »Nutzung« zu Abfall. Warum? Der Aufwand für R4 – R8 wird wegen zusätzlichen Verbrauchs an Materialien und Energie zu hoch und ist dann ökonomisch und – noch mehr – ökologisch unsinnig. Hinzukommt, dass die technologisch-fachlich richtige Einordnung der Klebtechnik als »nichtlösbare Verbindungstechnik« landläufig und politisch leider falsch verstanden wird. Alle Verbindungen können wieder gelöst werden, auch Klebungen! Eine Recyclingfähigkeit hängt vom Werkstoff ab, nicht von der Verbindungstechnik.
Ist die Klebtechnik nun ein Gegner oder ein Verbündeter einer Kreislaufwirtschaft?
Groß: Ein »Verbündeter«! Die Klebtechnik muss im Kontext einer Kreislaufwirtschaft vielmehr als Schlüssel betrachtet werden. Zur Optimierung der Öko-Effizienz werden Werkstoffe langzeitbeständig und sicher klebtechnisch verbunden, für ein werkstoffliches Recycling anschließend wieder voneinander getrennt. Von daher, entgegen der falschen öffentlichen und politischen Einschätzung, ist Kleben – sowohl insgesamt als auch auch im Zusammenhang mit Recycling - eine kreislaufwirtschaftszuträgliche Technologie.
Was ist Ihre Schlussfolgerung?
Groß: Die Politik muss wieder ganzheitlich denken, bewerten, einordnen und handeln. Schon das Beispiel Windenergieanlagen zeigt, dass bei ganzheitlicher Betrachtung der ökologisch viel größere positive Impact in der Nutzung den ökologisch viel kleineren Nachteil der werkstofflichen Recyclingunfähigkeit locker übertrifft. Das lässt sich auch auf viele andere Anwendungsbereiche der Klebtechnik übertragen. Die vorherrschende Fokussierung auf Details als Entscheidungsgesamtgrundlage muss folglich aufhören. Recycling ist hier ja nur ein Beispiel. Alles, auch die Bewertung und Einordnung der Klebtechnik insgesamt, braucht immer eine Abschätzung der Folgen. Und dazu gehört, dass die Klebtechnik vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl erforderlicher Werkstoffe eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts ist; technologisch, ökologisch und ökonomisch. Dies muss endlich auf den politischen Entscheiderebenen nicht nur ankommen, diese müssen auch entsprechend handeln.
Vielen Dank für das Gespräch!